Biologie oder Skript? Warum wir wirklich Sex haben
In der Debatte um sexuelles Verlangen begegnen wir oft einem Bild, das direkt aus einem verstaubten Biologiebuch zu stammen scheint: Der Mann als „Samenstreuer“, getrieben von einem unkontrollierbaren Urinstinkt, und die Frau als „Torwächterin“, die kühl kalkuliert, welcher Partner die beste Sicherheit für den Nachwuchs bietet.
Oft wird das „Reptilienhirn“ als Zeuge aufgerufen, um zu erklären, warum wir sind, wie wir sind. Doch die moderne Forschung im Jahr 2025 zeichnet ein weitaus differenzierteres Bild. Es ist Zeit, die Mythen zu entwirren und zu fragen: Was ist Biologie, was ist Macht und was ist schlichtweg Erziehung?
Das „Reptilienhirn“ – Ein missverstandenes Konzept
Oft wird behauptet, unser Sexualtrieb sei eine reine Instinkthandlung aus den ältesten Teilen unseres Gehirns (dem Hirnstamm). Doch beim Menschen kommt der Hauptimpuls um Sexualität zu iniziieren aus dem Limbischen System (Mittelhirn) und ist untrennbar mit der Großhirnrinde (dem Neocortex) verbunden. Das bedeutet: Wir reagieren nicht nur reflexhaft auf Hormone. Unsere Erlebnisse, Werte und die Kultur, in der wir leben, fließen direkt in unsere Erregung ein.
Die biochemischen Akteure
Zwar ist Testosteron bei allen Geschlechtern der wichtigste Motor für die Libido, doch die „Lust“ entsteht erst durch ein komplexes Zusammenspiel:
- Dopamin: Sorgt für das „Wollen“ und die Motivation (das Belohnungssystem).
- Oxytocin: Fördert die Bindung und das Vertrauen, besonders nach dem Orgasmus.
Der biologische Unterschied liegt vor allem im Durchschnittsniveau: Männer haben physiologisch meist einen deutlich höheren Testosteronspiegel. Doch wie dieser Spiegel in Verhalten übersetzt wird, entscheidet die Gesellschaft.
Der Mann: Triebgesteuert oder nur „erlaubt“?
Das Narrativ „Männer wollen nur das Eine“ wird oft biologisch begründet (viele Spermien, wenig Aufwand). Doch die Sozialpsychologie zeigt, dass hier Machtverhältnisse und soziale Skripte eine massive Rolle spielen.
Das Privileg der Sichtbarkeit
Männern wird in unserer Kultur traditionell die „höhere“ oder aktive Position zugesprochen. Diese Machtstellung bringt eine soziale Erlaubnis mit sich: Ein Mann darf sexuell hungrig sein, er soll initiieren. Diese Sicherheit, für sein Verlangen nicht geächtet zu werden, macht den biologischen Antrieb weitaus sichtbarer.
Der Wandel der Attraktivität: Was Männer suchen
So wie sich die Strategien der Frauen ändern, wandelt sich auch der männliche Blick. In traditionellen Strukturen suchten Männer oft nach Jugend und Verfügbarkeit, die auf Fruchtbarkeit hindeuteten könnten.
Doch Studien zur Social Role Theory (z.B. von Eagly & Wood) zeigen: Je gleichberechtigter eine Gesellschaft ist, desto mehr verschieben sich die Präferenzen der Männer.
- Der Fokus auf „hausmütterliche Qualitäten“ oder reine Jugendlichkeit tritt in den Hintergrund.
- Stattdessen werden Intelligenz, Bildung und soziale Kompatibilität wichtiger.
- Wenn der Mann nicht mehr der alleinige „Ernährer“ sein muss, kann er eine Partnerin auf Augenhöhe wählen, die mit ihm das Leben gestaltet, anstatt nur das Nest zu hüten. Das Attraktivitätsmuster verändert sich.
Die Frau: Sicherheit oder unterdrückte Lust?
Auf der anderen Seite steht die These der „wählerischen Frau“. Die Evolutionäre Psychologie (bekannt durch Forscher wie Robert Trivers und seine Parental Investment Theory) besagt, dass Frauen wählerisch sein müssen, weil die biologischen Kosten einer Schwangerschaft extrem hoch sind.
Ressourcen als Überlebensstrategie
Frühere Studien (wie von Buss & Schmitt) zeigten, dass Frauen weltweit Partner mit Status und Ressourcen bevorzugen. Doch wir müssen den Kontext sehen: In Gesellschaften, in denen Frauen keinen Zugang zu eigenem Geld oder Schutz hatten, war die Wahl eines „versorgenden“ Partners keine rein biologische Präferenz, sondern eine ökonomische Notwendigkeit.
Die Entfesselung durch Gleichstellung
Neuere Untersuchungen belegen, dass in Ländern mit hoher Geschlechtergleichstellung diese Unterschiede schrumpfen. Wenn Frauen ihre eigenen Ressourcen sichern, wird das Kriterium „Status“ beim Partner unwichtiger. Stattdessen rücken Lust, Attraktivität und emotionale Kompatibilität in den Fokus. Die weibliche Libido ist also nicht „schwächer“, sie war oft nur durch materielle Abhängigkeit und soziale Angst vor Reputationsverlust (das „Slut-Shaming“) gedeckelt.
Jenseits der Binarität: Queer-Sein als Befreiung vom Skript
Wenn wir über sexuelle Strategien sprechen, wird oft so getan, als gäbe es nur Männer und Frauen in heterosexuellen Beziehungen. Doch das queere und nicht-binäre Spektrum zeigt uns eindrücklich, wie hinfällig die biologischen „Ur-Narrative“ sind, sobald wir das heteronormative Skript verlassen.
In queeren Partnerschaften, in trans Identitäten oder in polyamoren Gefügen werden Lust, Fürsorge und Bindung völlig neu verhandelt. Hier gibt es keine vorgefertigte Rollenverteilung von „Jäger“ und „Torwächterin“. Diese Lebensformen lehren uns, dass Intimität und Partnerschaft nicht auf einer binären Fortpflanzungslogik basieren müssen, sondern auf Konsens, Identität und individueller Bedürfniskommunikation. Wenn das biologische Ziel der Fortpflanzung wegfällt (oder anders gelebt wird), wird der Blick frei für das, was Sexualität im Kern ist: Ein tiefes menschliches Bedürfnis nach Ausdruck und Verbindung, das völlig unabhängig von Geschlechtsorganen oder Chromosomen funktioniert.
Das „Dorf“-Modell: Wenn Pflege und Kindererziehung grossflächig geteilt wird
Ein faszinierender Aspekt ist die alloparentale Pflege – die Idee, dass Kinder nicht (nur) von Kleinfamilien und weiblichen Bezugspersonen sondern von einer Gemeinschaft (Großeltern, Tanten, Onkel, Nachbarn) aufgezogen werden.
In Gesellschaften, in denen die Care-Arbeit breit abgestützt ist und Ressourcen gemeinschaftlich verteilt werden, passiert etwas Erstaunliches:
- Väter verändern sich biologisch: Studien (z.B. von Gettler et al.) belegen, dass der Testosteronspiegel bei Männern sinkt, wenn sie sich aktiv und fürsorglich um Kinder kümmern. Die Biologie passt sich also der sozialen Rolle an, nicht umgekehrt.
- Unbedingte Zugehörigkeit: Wenn das Überleben des Kindes nicht mehr allein von der Treue und dem Einkommen eines Mannes und den mütterlich, fürsorglichen Qualitäten der Frau abhängt, bricht das Korsett der „Sicherheits-Sexualität“ auf. Sexualität wird frei von dem Druck, eine lebensnotwendige Versorgung absichern zu müssen.
Was bedeutet das für uns?
Wenn wir verstehen, dass unser sexuelles Verhalten zu einem großen Teil eine Antwort auf unsere Umwelt ist, gewinnen wir Freiheit zurück.
In meiner Arbeit in sex-positiven Räumen und in der transformativen Begleitung geht es genau darum: Wir kreieren temporäre „Dörfer“ der Sicherheit. Räume, in denen Machtgefälle bewusst reflektiert werden und in denen Zugehörigkeit nicht an Bedingungen geknüpft ist.
Dort können wir uns fragen:
- Wer bin ich, wenn ich als Mann nicht „performen“ muss?
- Wer bin ich, wenn ich als Frau keine „Sicherheit“ einkaufen muss?
- Wie fliesst meine Sexualität, wenn mir als Mensch das heteronormative Skript nicht mehr viel nützt?
- Was bleibt übrig, wenn wir unseren Körpern erlauben, jenseits der alten Überlebensprogramme zu fühlen?
Sexualität ist kein festes Schicksal aus der Steinzeit. Sie ist ein lebendiges Gespräch zwischen unseren Zellen und der Welt, in der wir leben wollen.
Quellen & weiterführende Studien:
- Trivers, R. (1972): Parental Investment and Sexual Selection.
- Buss, D. M., & Schmitt, D. P. (1993): Sexual Strategies Theory.
- Eagly, A. H., & Wood, W. (1999): The origins of sex differences in human behavior.
- Gettler, L. T., et al. (2011): Longitudinal evidence that fatherhood decreases testosterone in human males.
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